Georg Toepfer
Historisches Wörterbuch der Biologie, Rezension

Zeitschrift für Kulturphilosophie 6 (2) (2012), S. 367-376

Besprechung von Kristian Köchy

Der ganze Kosmos der Biologie
Toepfers Geschichte und Theorie biologischer Grundbegriffe

Um es gleich zu sagen: Dieses Historische Wörterbuch der Biologie - diese Bücher sind ebenso verstörend und irritierend wie beeindruckend und informativ. Als Monolith hebt es sich von der großen Menge der aktuellen fachwissenschaftlichen oder philosophischen Buchpublikationen eindeutig ab - ja man kann sagen, es gibt derzeit kein anderes Werk mit einem vergleichbaren Anspruch. Diese Sonderstellung wird bereits bei Berücksichtigung bloß quantitativer Kriterien deutlich: Der Umfang des zusammengetragenen Materials erforderte 2404 Druckseiten zur schriftlichen Niederlegung, es werden 112 Haupteinträge und 1760 Nebeneinträge zur historischen und systematischen Bedeutung der Grundbegriffe der Biologie vorgestellt, 579 Abbildungen und 308 aufwendig erarbeitete Tabellen zur Darstellung von begrifflichen Entwicklungen, Konstellationen und Klassifikationen ergänzen den Text, für die einzelnen Einträge werden stets ca. 100 Quellen zitiert - in manchen Fällen sind es über 300. Nimmt man inhaltliche Kriterien hinzu und berücksichtigt auch den elaborierten Systemanspruch sowie die in Teilen des Textes aufleuchtenden Hintergrundannahmen des Autors, die in der Umsetzung eine theoretisch durchdachte Architektonik aller Einträge erzeugt, dann wird klar, warum dieses Mammutwerk nur von einem einzelnen Autor umgesetzt werden konnte - zugleich verstärkt sich jedoch auch der Eindruck, man habe es hier mit einem Anachronismus zu tun, quasi mit einem Wiedergänger des Humboldtschen Universalismus, der sich zwar nicht mehr anheischig macht, den Kosmos natürlicher und kultureller Bildungen insgesamt auf Höhe der einzelwissenschaftlichen Kenntnis nachzuzeichnen, der aber doch zumindest den ebenso umfänglichen und feinstrukturierten Kosmos biologischer Bildungen und Phänomene in einem komplex geknüpften Netz biologischer Grundbegriffe einfangen möchte.

Die aufmerksame Lektüre relativiert diesen Eindruck schnell. Denn einerseits muß das Ergebnis des enzyklopädischen Vorhabens als durchaus gelungen bezeichnet werden. Hier wird auf hohem Niveau und mit großem Sachverstand eine Fülle interessanter Fakten und Einsichten präsentiert. Die Einzeleinträge erlauben einen ebenso umfassenden wie genauen Überblick über den aktuellen Diskussionsstand und die historische Entwicklung der behandelten Themen. Und andererseits ist das vorliegende Werk keinesfalls ein Produkt des 19. Jahrhunderts, sondern es ist in vielerlei Hinsicht unzweifelhaft hochmodern: Fragt man sich etwa, wie es einem einzelnen Autor - zumal wenn er nicht, wie naheliegend, hochbetagt am Ende seines Forscherlebens die Früchte lebenslanger Arbeit zusammenträgt, sondern es sich, wie im vorliegenden Fall, um einen Wissenschaftler mittleren Alters handelt - überhaupt gelingen konnte, eine derartige Materialfülle in bleibend hoher Qualität der Einzelbeiträge mit beeindruckendem Quellenbezug zu bearbeiten, dann wird man auf die Nutzung digital verfügbarer Informationen sowie die Auswertung von Datenbanken verwiesen (gern hätte man zu diesem wesentlichen technischen Mittel und Verfahren der Umsetzung mehr erfahren). Doch nicht nur die technische Praxis im Hintergrund des Textes ist hochmodern. Auch für den immer wieder durchschimmernden theoretischen Ansatz des Autors, der dessen Materialsichtung leitet und die Darstellung strukturiert, trifft dieses in bestimmten Hinsichten zu. Im Folgenden sollen diese Hintergrundüberlegungen in den Vordergrund der Betrachtung gerückt werden - nicht um so die Idiosynkrasien und den subjektiven Blickwinkel des Autors aufzudecken, denn Toepfers Wörterbuch ist keinesfalls einseitig, sondern erfüllt durchaus alle Forderungen des Genres nach Neutralität, Ausgewogenheit und Ausführlichkeit. Vielmehr treten durch diese Vorgehensweise die durch alleinige Autorschaft entstehenden Formungsmöglichkeiten in Organisation und Gliederung des enzyklopädischen Materials besonders hervor. Damit sind - wie Cassirer immer wieder fordert - die Befunde "in ein Verhältnis zu einem […] intellektuellen Zentrum gesetzt", womit sie allererst zu einer Tatsache der Wissenschaft werden.

Berücksichtigt man deshalb die programmatischen Hintergrundannahmen des vorliegenden Wörterbuchs, dann wird deutlich, daß hier eine sprachphilosophisch reformulierte Binnenontologie der Biologie präsentiert wird. Im Sinne des linguistic turns wird der biologische Gegenstandsbereich in all seinen Filiationen als System und Geschichte biologischer Grundbegriffe dargelegt. Auf die konstitutive Vagheit und Offenheit biologischer Begriffsbildungen (Bd. 1, xxviiff.), auf historische Dynamiken, Transformationen und Umdeutungen (Bd. 1, xxvi) sowie auf die wesentlichen Besonderheiten der Biologie als "begriffszentrierte Naturwissenschaft" (Bd. 1, xxi) antwortet der Autor zudem mit einem systematischen Strukturierungsangebot - als Ergebnis seiner ebenfalls opulenten Untersuchung Zweckbegriff und Organismus: Demnach ist es "kennzeichnend für die Begriffsbildung der Biologie, daß die Teile und Teilprozesse von Organismen vielfach nicht durch intrinsische Eigenschaften, sondern unter Bezug auf ihre Wirkung auf andere Teile oder das Ganze des organischen Systems bestimmt und benannt werden" (Bd. 1, xxi). So ergibt sich aus der Annahme einer "Wechselseitigkeit der Prozesse in einem organisierten System, die gegenseitige kausale und ontologische Abhängigkeit sowie die relationale Bestimmtheit der einzelnen Glieder" (Bd. 1, xxiv) und damit eine bestimmte Struktur der im Hintergrund der alphabetischen Reihung eines Wörterbuchs liegenden intellektuellen Architektonik des Werks. Es entsteht eine bestimmte Ordnung von 112 Haupteinträgen unter zehn Oberbegriffen (Bd. 1, Tab. 3, xxxv), bei denen eine erste Gruppe unter dem Oberbegriff "Organismus" die Grenze der Biologie "nach unten" zur Physik hin markiert, während eine zweite Gruppe unter dem Oberbegriff "Kultur" "nach oben" an die Kulturwissenschaften anschließt. Zum Ausdruck gebracht wird damit auch der vermittelnde und insofern besondere Status der Biologie, ihres Gegenstandsfeldes und ihrer begrifflichen Grundlagen. Wie noch zu zeigen ist, propagiert Toepfer jedoch weder eine neue Leitdisziplin Biologie im Sinne von E.O. Wilsons Consilience noch werden physikalische Erklärungssysteme oder kulturwissenschaftliche Deutungsmuster einfach aus dem Aufmerksamkeitsfeld verbannt. Vielmehr ist die Aufnahme von Einträgen zu "Bedürfnis", "Bewußtsein", "Bioethik", "Empfindung", "Gefühl", "Kultur" oder "Kulturwissenschaft" für dieses Wörterbuch der Biologie konstitutiv, und auch dieses belegt die besondere Ausrichtung von Toepfers Hintergrundprogramm. Den zehn Ordnungsbegriffen vom Status übergeordneter Grundbegriffe (Organismus, Typus, Funktion etc.) werden dann weiter je zehn untergeordnete Begriffe mittleren Niveaus zugewiesen und diesen wiederum jeweils zehn bis zwanzig Begriffe unteren Niveaus, womit die beeindruckende Summe von 1.872 Einträgen resultiert, die im Wortverzeichnis aufgeführt und im Werk mit hoher Präzision und enormer Detailgenauigkeit abgehandelt sind.

Über diese bereits komplexe intellektuelle Architektonik des Begriffsapparates hinausgehend, unterstreicht dann die graphische Visualisierung der grundlegenden Konzepte (Bd. 1, Abb. 4, xxxiv) nicht nur erneut die relationale Verfaßtheit aller Oberbegriffe und deren Bezug zur Wechselwirkung, sondern sie läßt darüber hinaus die Feinbezüge zwischen den einzelnen Oberbegriffen und deren konzeptioneller Abfolge erahnen. Auch hier wird die grundlegende Bedeutung von "Organismus" (in der Visualisierung als Kreis mit aufeinander als Pfeile verweisenden Relationen zwischen punktförmigen Unterstrukturen dargestellt) ebenso deutlich, wie die daraus resultierende Unterscheidung innerorganismischer Bezüge einerseits (erste Spalte: Funktion, Form, Typus, Entwicklung) sowie außerorganismischer Bezüge andererseits (zweite Spalte: Verhalten, Fortpflanzung, Evolution, Ökosystem, Kultur). Je genauer man sich in diese, im Schema visualisierte Matrix von Konzepten versenkt und den Bezügen der einzelnen Schematisierungen untereinander nachdenkt, desto feinkörniger wird das von Toepfer investierte Grundkonzept.

Dieses berücksichtigend entsteht der sich bei vergleichender Lektüre der Einzelbeiträge festigende Eindruck einer mit großem Strukturierungsanspruch umgesetzten komplexen internen Logik der Begriffe im vorliegenden Werk, das mit seiner Fokussierung auf die sprachliche Verfaßtheit der Biologie - unter weitgehender Ausblendung der relevanten methodischen Mittel sowie der räumlich-historischen Bedingungen der Forschung - eine klar theorienzentrierte Note hat. Man könnte auf den Gedanken verfallen, daß Toepfers Ansatz eine Programmatik zum Ausdruck bringt, die mutatis mutandis intellektuelle Anleihen am Carnapschen Vorbild einer Wissenschaftslogik macht. Zwar zeigt Toepfers Ausrichtung auf die Begriffsgeschichte, daß der Autor in Abwendung von einer rein formalen Betrachtung etwa mit Ludwik Fleck die Einsicht teilt, eine Erkenntnistheorie ohne geschichtliche und vergleichende Untersuchung werde zur Epistemologia imaginabilis. Dennoch geht Toepfer die für Fleck aus diesem Befund folgende Konsequenz einer grundlegenden Skepsis an der rationalen Faßbarkeit des sich dynamisch entwickelnden und gegenseitig wechselbezüglichen Begriffssystems offensichtlich nicht mit. Während Fleck in Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache die ihn ebenfalls leitende Vorstellung eines durch wechselseitige Bezüge bestimmten Begriffsgefüges der Biologie als logisch unentwirrbares Geflecht versteht und angesichts der kontextuellen Rahmenbedingungen von Beobachtung und Begriffsbildung in "Über die wissenschaftliche Beobachtung und die Wahrnehmung im allgemeinen" die völlige Fruchtlosigkeit des Carnapschen Programms konstatiert, bleibt Toepfers Ansatz in vielen Aspekten durchaus (post-)positivistisch: So ist etwa sein Unterfangen - was sich auch aus denkökonomischen und umsetzungspraktischen Rücksichtnahmen ergibt - insofern reduktionistisch und abstrahierend, als für ihn Begriffsgeschichte stets einem "atomisierenden Ansatz" (Bd. 1, xiv) folgt, da sie sich auf isolierte Theorieelemente konzentriert. Statt der für Flecks Philosophie charakteristischen Kontextualisierung qua Berücksichtigung der Geschichte von Institutionen, Forschungspraxen, Experimentaltechniken oder sozio-kulturellen Rahmenbedingungen resultiert für den begriffsgeschichtlichen Ansatz Toepfers damit notwendig eine methodische Dekontextualisierung, wiewohl als Ideal die Ergänzung von begriffsgeschichtlicher "Phylogenese der Wörter" durch eine "Ökologie der Wörter" (Bd. 1, xv) bleibt. Auch betont Toepfer die ausgeprägte "Fortschrittsorientierung des Gegenstandes" (Bd. 1, xx) seiner Geschichte wissenschaftlicher Begriffe. Aktualisierend nimmt so das Wörterbuch den "Standpunkt des nachträglichen Betrachters" (Bd. 1, xix) ein und beurteilt die vorgestellten Konzepte und Theorien im Hinblick auf ihren Beitrag zum heutigen Verständnis der Sache. Im Gegensatz dazu ist für Fleck wissenschaftliche Wirklichkeit oder Wahrheit nichts als ein Netzwerk von Konzepten in fortwährender Fluktuation. Wissenschaftliche Entwicklung wird ihm zur Irrfahrt mit beständigem Richtungswechsel und die rückwärts orientierte Sichtung der Befunde und Begriffsbildungen der Vorgänger erweist sich mit zunehmender zeitlicher Distanz (und wechselndem Denkstil) um so schwieriger, weil die überkommenen Begriffe mit den unsrigen nichts Gemeinsames mehr haben und als bloße Phantasiegebilde erscheinen müssen. Im Gegensatz dazu ist Toepfer sich darüber klar, daß eine solchermaßen pluralistische Haltung seinen Versuch einer systematischen Begriffsgeschichte relativieren würde (Bd. 1, xviii). Dem Metastandpunkt von Toepfers System scheint deshalb eher die Maxime von Lakatos' historiographischem Ansatz zugrunde zu liegen, möglichst große Bereiche der Geschichte wissenschaftlicher Forschungsprogramme als rational auszuweisen.

Von Flecks relativierenden und historisierenden Skrupeln ist Toepfers Werk deshalb weitgehend frei - sie hätten seiner Umsetzung auch verhindernd im Wege gestanden. Daß das Ergebnis dann weder monistisch noch dogmatisch ausfällt und den historischen Transformationen und deren Rahmenbedingungen gegenüber sensibel bleibt, spricht für Toepfers Ansatz. Vor allem ist eine naturalistisch-naturwissenschaftliche Engführung oder eine Biologiesierungstendenz an keiner Stelle zu bemerken. Das liegt auch daran, daß der begriffsgeschichtliche Ansatz trotz aller Reduktion und Abstraktion einen eindeutig anderen Standpunkt einnehmen muß als die Biologie selbst qua Naturwissenschaft: "Ein Historisches Wörterbuch einer Naturwissenschaft bildet […] ein Werk genau über denjenigen Aspekt einer Naturwissenschaft, der einen praktizierenden Naturwissenschaftler im Normalfall gerade nicht interessiert […]" (Bd. 1, xvii). Zudem folgt jede Begriffsbildung Gesetzen und unterliegt Dynamiken, die eher der Begriffs- und Theoriebildung der Geistes- und Sozialwissenschaften entsprechen. Weiterhin ist die Rekonstruktion der Begriffsgeschichte ein interdisziplinäres Unternehmen. Und schließlich ist gerade mit der Fokussierung auf die sprachliche Repräsentanz der Biologie notwendig eine hermeneutische Ausrichtung verbunden. Diese implizit kulturwissenschaftlichen Rücksichtnahmen und Importe zeigen sich natürlicherweise insbesondere in den Einträgen "Kultur" und "Kulturwissenschaft" (Bd. 2, 340ff.) - sie werden aber beispielsweise auch in der Betonung der philosophischen Konnotationen der Biologie erkennbar (Bd. 1, 274ff.) oder in der umfänglichen Berücksichtigung der "Bioethik" (Bd. 1, 205-230).

Will man Toepfers Programm noch eindeutiger konturieren, dann macht es Sinn, sich dessen Ausführungen zu "Kultur" zuzuwenden und so eine der möglichen Grenzen der Biologie zu betrachten. Orientiert man sich dazu zunächst an der obenerwähnten graphischen Visualisierung der grundlegenden Konzepte der Biologie, dann erweist sich "Kultur" als "ideenorientierte Gestaltung der Welt" (Bd. 1, Abb. 4, xxxiv) und insofern in den Bereich der Außenbezüge von Organismen gehörig. Ebenso wie "Verhalten" (Bd. 1, Abb. 4 und Bd. 3, 653ff.) muß sie als Relation von Lebewesen zu deren Umwelt verstanden werden. Die Visualisierung macht jedoch auch den maßgeblichen Unterschied dieser beiden Relationen deutlich: Während "Verhalten" die Regulation des Umwelteinflusses auf Organismen durch Organismen betrifft und insofern stets einen Rückbezug des Regulationsprodukts auf den Organismus beinhaltet, sind kulturelle Handlungen nicht nur gezielte Veränderungen von Objekten der Umwelt eines Organismus zu einem Gegenstand, sondern das Produkt der kulturellen Aktivität wirkt nun nicht notwendig wieder auf den Organismus zurück. Insofern verläßt oder transzendiert das Kulturprodukt die Sphäre rein biologischer Beziehungen. Damit verweisen die Einträge "Kultur" und "Kulturwissenschaft" in Toepfers Wörterbuch nicht nur deshalb auf den Eigenwert der kulturellen Sphäre, weil sie eine umfängliche Rezeption der verschiedenen kulturellen Definitionen, Konzepte und Programme von "Kultur" und "Kulturwissenschaft" aufweisen, sondern sie tun es vor allem deshalb, weil sie deutlich machen, daß trotz des wichtigen Querbezugs zu "Verhalten" eine jenseits aller biologischen Relevanz liegende Dimension von Kultur existiert. Der Kulturbegriff kann aus diesem Grund sogar in methodischer Opposition zu den begrifflichen Grundlagen der Biologie stehen (Bd. 2, 351). Gerade die jenseits aller biologischen Funktionsbetrachtungen liegende Dimension von Kultur, ja möglicherweise deren Funktionslosigkeit oder -freiheit in biologischer Hinsicht, macht "Kultur" zum Grenzbegriff der Biologie.

Dieser Aspekt ist nun insofern bedeutsam, als er Toepfers Programm in positiver Hinsicht doch als pluralistisch kennzeichnet. Dieses führt etwa zu einem Votum gegen den auf biologische Konzepte und Befunde eingeschränkten Methodenmonismus sowie "das Hegemonialstreben der Biologie in einer differenzierten Wissenschaftslandschaft" (Bd. 2, 350). In Abgrenzung vom soziobiologischen Verständnis von Kultur, nach dem kulturelle Handlungsmuster nichts anderes sind als Mittel zur Erreichung des biologischen Zwecks der Fitneßmaximierung (Bd. 2, 349), wird die Möglichkeit von "Exaptationen" erwogen, wonach ursprünglich biologische Funktionen der Selbsterhaltung von diesen Funktionen frei werden und neuen, nun nicht mehr biologischen Zwecken zugeführt werden können. In diesem Fall wäre Kultur eine "Zwecksetzung jenseits biologischer Zwecke", die sich aus den menschlichen Vermögen des Setzens und Verfolgens von Zielen ergibt (Bd. 2, 351). Damit wird für Toepfer klar, daß gerade die Biologie, die sich "in ihrer Geschichte in langanhaltenden Auseinandersetzungen reduktionistischer Übergriffe seitens der Physik erwehren und ihrer methodischen Autonomie versichern" mußte, eine besondere Sensibilität für die Eigenständigkeit der Kulturwissenschaften besitzen sollte (Bd. 2, 352). Sie sollte hinnehmen, daß "auf ihrer begrifflichen Grundlage, d.h. aufbauend auf der Theorie von Organismen, Prinzipien im Rahmen von Wissenschaften entwickelt werden, die nicht mehr den biologischen Grundsätzen folgen - und diese sogar außer Kraft setzen, wie es im Fall der Fitneßmaximierung als biologisch universalem Erklärungsgrund von Verhalten vorliegt." (Ebd.)

Aus diesem Grund ist auch die Analogisierung von biologischer und kultureller Entwicklung unter dem Sammelbegriff "Evolution" zu kritisieren. Wegen nachweislicher wesentlicher Unterschiede - insbesondere wegen der für Kultur relevanten Dimensionen der Gründe, Absichten und wechselseitigen Anerkennung von Normen - sei der Terminus "Kultur-Evolution" möglichst zu vermeiden und es sei besser von "Kulturgeschichte" oder "Kulturentwicklung" zu sprechen (Bd. 2, 358). Ebenso sei die gängige Rede von einer "Kultur der Tiere" (Bd. 2, 361ff.) zu spezifizieren. Die Ausweitung des Kulturbegriffs auf Tiere mache zwar Sinn im Kontext der Bemühungen um einen effektiven Schutz vom Aussterben bedrohter nichtmenschlicher Lebewesen (Bd. 2, 364), sie sei jedoch mit Blick auf die Befunde der Verhaltensforschung (Toepfer bezieht sich u.a. auf die einschlägigen Überlegungen von Tomasello) einzuschränken: Berücksichtigt man die Mechanismen der kulturellen Tradierung und Potenzierung von Kenntnissen (etwa den immer wieder angeführten "Wagenhebereffekt"), dann bestünden deutliche Unterschiede in den kulturellen Fähigkeiten von Menschen und anderen Lebewesen (Bd. 2, 365). Insofern verweist vieles auf eine spezielle symbolvermittelnde Tradition beim Menschen (so Wolfgang Wickler), was die symbolvermittelte Erfassung von Welt beim Menschen (nach Ernst Cassirer) gegen die eher unmittelbaren Bezüge zur Umwelt bei Tieren stellt. "Kultur" steht damit für genuin menschliche Qualitäten und kann als Auszeichnung der Humanität des Menschen verstanden werden. Deshalb gilt: "Das Konzept der Kultur stellt in dieser Hinsicht eine begriffliche Ressource dar, die nicht leichtfertig aufgrund der zunehmenden Einsicht in die Komplexität des tierischen Verhaltens aufgegeben werden sollte." (Bd. 2, 367)

In ähnlicher Weise ist auch der Eintrag zum Schlüsselbegriff "Leben" (Bd. 2, 420-483) charakteristisch für Toepfers Programm. Ohne auf die Details dieser umfänglichen Erörterung hier eingehen zu können (man vergleiche nur die differenzierte Begriffsbestimmung im Kasten auf Bd. 2, 420), ist insbesondere bemerkenswert, daß Toepfer neben der biowissenschaftlichen Dimension des Lebensbegriffs dessen gesamte kulturgeschichtliche Bandbreite berücksichtigt (inklusive vorwissenschaftlicher, religiöser oder literarischer Konzepte). Wieder im Sinne des oben genannten Pluralismus - der sich nach dem Dafürhalten des Rezensenten natürlicherweise aus dem Bezug auf das Phänomenfeld der Biologie ergibt -, votiert Toepfer gegen den Versuch, Leben auf nur ein Prinzip zurückzuführen. Die Vielzahl der genannten Lebenskriterien ermöglicht nur als Gesamtheit eine Umgrenzung des Phänomenbereichs des Lebendigen. Deswegen sei damit weniger eine Definition als vielmehr eine Analyse des Lebensbegriffs geliefert. Gerade diese strukturelle Vagheit und Unschärfe - welche wiederum auf die zugrundeliegende Pluralität des so bezeichneten Phänomenfeldes zurückgeht - belege die diesbezügliche Einschlägigkeit von Wittgensteins Konzept der Familienähnlichkeit (Bd. 2, 448). Neben dieser bereits auf der biowissenschaftlichen Ebene relevanten Einsicht, die zeigt, daß sich die Fülle der biologischen Objektklassen und die mit dem auf Diversität ausgerichteten Prozeß der Evolution einhergehenden Bedingungen des biologischen "Mannigfaltigkeitswunders" auch auf der terminologischen Ebene niederschlagen, ist ein zweiter Aspekt der genannten Unschärfe zu berücksichtigen.

Wie Toepfer deutlich macht (Bd. 2, 452ff.), existiert seit der Antike ein Doppelsinn der Kategorie "Leben". Diese wird nicht nur als naturwissenschaftliche Kategorie verwendet, sondern ist zudem zentrale Begrifflichkeit der menschlichen Selbstbeschreibung. Die damit entstehende Vielschichtigkeit - sowie die in ihr eingeschlossenen Effekte von Rück- und Selbstbezüglichkeiten, sobald der sich selbst als lebend verstehende Mensch lebendige Phänomene mit wissenschaftlichen Mitteln zu untersuchen beginnt - eröffnet vor allem einerseits die Notwendigkeit von pluridisziplinären Zugängen (nach Michel Morange) und ist andererseits "Ansatzpunkt für die Verankerung einer normativen Ebene im Bereich des Faktischen der Natur" (Bd. 2, 452). Nun ist Toepfers Haltung zu der von einigen aus dieser Ambivalenz des Lebensbegriffs abgeleiteten Konzeption einer Heiligkeit des Lebens (Bd. 2, 453) und den resultierenden ethischen Konsequenzen (Bd. 2, 460ff.) eindeutig: "Die fehlende Eignung des Lebensbegriffs für einen uneingeschränkten Wertbegriff hängt auch mit dessen ungebrochener Verankerung in den Naturwissenschaften zusammen: Das Leben in der Natur wird in der Biologie nicht nur als schöpferisch […], sondern in gleichem Maße als destruktiv […] beschrieben." (Bd. 2, 457) Dennoch resultiert aus der genannten Ambivalenz eine besondere theoretische und epistemologische Konsequenz. Erstens muß konstatiert werden, daß der Begriff des Lebens trotz seiner starken naturwissenschaftlichen Bezüge keinesfalls ein spezifisch naturwissenschaftlicher Begriff ist (Bd. 2, 468) - die Einbeziehung etwa lebensphilosophischer Positionen in Toepfers Wörterbuch ist deshalb folgerichtig. Und zweitens ergibt sich die nicht nur für ethische Überlegungen relevante (Bd. 2, 460ff.), sondern insbesondere sich auch in theoretischer Hinsicht - etwa im Kontext der kognitiven Ethologie (Bd. 1, 475f.; Bd. 1, 193ff.) - immer bedeutsamer werdende Tatsache, daß als "lebend" Bezeichnetes potentiell eine "Innenseite" besitzt und damit vom Menschen (auch qua Forscher) "nicht nur in der empirischen Wahrnehmung als äußerer Naturgegenstand, sondern auch in der inneren Erfahrung als subjektiv Erlebtes" (Bd. 2, 460f.) begegnet wird. Damit wird dann die Einbeziehung von Begriffen wie "Bewußtsein", "Empfindung", "Gefühl" oder "Wahrnehmung" in dieses Historische Wörterbuch der Biologie verständlich.

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